Wohnt in Marseille, arbeitet in Deutschland und Frankreich. Abschluss des Doppelmasters 2008 in Hildesheim. Wenn sie nicht gerade Soundschnipsel einer neuen Radioarbeit hin- und herschiebt oder stundenlange Interviews durchhört, an einer Übersetzung feilt oder Gruppen durchs MuCEM führt, rudert sie vom Alten Hafen zu den Frioul-Inseln oder schnorchelt zwischen Malmousque und der Île Degaby.
Ich bin in mehreren Schaffensfeldern zuhause: Als Radioautorin und -regisseurin hauptsächlich im Featurebereich, als Übersetzerin und als Kulturschaffende in diversen Kontexten. Interessanterweise habe ich meine große Leidenschaft für das Radiofeature erst nach dem Studium entdeckt, als ich sechs Monate lang Mitglied der europäischen Redaktion eines Bürgerradios in Nantes war. Dies gab den Ausschlag, ein Praktikum in der Featureabteilung des rbb in Berlin zu machen.
Großartig! Und eine folgenreiche Entscheidung: 2010 produzierte ich meine ersten eigenen Mini-Features – die Hörstückserie „Als Fremde zu Hause“ über Einwanderungsgeschichten nach Marseille, gefolgt von meinem ersten Halbstünder „Sans papier“, über einen algerisch-stämmigen Marseiller, der zehn Jahre lang ohne regulären Aufenthaltsstatus in Marseille gelebt hatte. Gleichzeitig fing ich an, als Regieassistentin für Feature und Hörspiel beim rbb zu arbeiten und lernte so für mich wegweisende Regisseur*innen und Erzählweisen kennen, den Umgang mit gesprochener Sprache, Atmos, Soundeffekten und Musik. Meine eigenen Arbeiten führten mich wiederholt nach Frankreich und so ganz nebenbei dazu, dass ich die letztlich in meinen Features verwendeten O-Töne ins Deutsche übersetzen musste. Nach und nach entstand dabei der Wunsch das Übersetzen zu einem zweiten Standbein auszubauen und ich entschied 2014 ein berufsbegleitendes Zweitstudium an der ESIT (École Supérieure des Interprètes et des Traducteurs, angegliedert an die Sorbonne Nouvelle) in Paris zu starten. Nachdem ich 2017 meinen Abschluss in der Tasche hatte, inzwischen auch Mann und Kind im Gepäck, entschied ich nach mehreren Jahren zwischen Berlin und Paris beiden Städten Adieu zu sagen und nach Marseille zurückzuziehen. Meine Radioarbeit für verschiedene ARD-Sender setze ich seitdem von hier aus fort mit regelmäßigen Aufenthalten in Deutschland. Nach Berlin zieht es mich mindestens einmal im Jahr zurück, da ich seit 2011 für den Prix Europa arbeite, ein europäisches Festival für öffentlich-rechtliche Medien, das einmal im Jahr Medienschaffende aus den Bereichen Fernsehen, Radio und digitale Medien in Berlin versammelt. Als Teil der Vorjury habe ich das Glück Radioproduktionen aus ganz Europa zu hören (jeweils mit englischer Übersetzung). Zusammenfassend könnte man also sagen, das Doppelstudium führte auf keinen meiner Schaffensbereiche auf direktem Weg zu und doch hängen alle mit ihm zusammen.
So – oder ähnlich – lautet der erste Satz, der mir in Zusammenhang mit dem Marseiller Ansatz der Médiation Culturelle, also der Kulturvermittlung, in Erinnerung geblieben ist. Ich habe die Herangehensweisen an die Kulturwissenschaften in Hildesheim und Marseille als grundlegend unterschiedlich erlebt – und diesen Unterschied als sehr bereichernd. Interessanterweise war der auf die Gesamtheit der Kulturwissenschaften ausgerichtete (damals noch Diplom-)Studiengang in Hildesheim sehr viel praxisbezogener als der auf den Vermittlungscharakter fokussierte Master in Marseille. In Hildesheim war vor allem die sehr freie Projektarbeit herausfordernd und fördernd, insbesondere in Sachen Selbstständigkeit und Nähe zur Kunst: die eigene künstlerische Tätigkeit schuf Zutrauen, auch ohne Vorerfahrung Neues und Unbekanntes auszuprobieren. In Marseille dagegen wurde viel Theorie gepaukt, Theorie, die mir ganz neue Felder eröffnete: das von Jean-Charles Bérardi, dem Gründer des Studiengangs entworfene Modell, dessen, was Kulturvermittlung bedeutet (bzw. bedeuten kann), wie es funktioniert, was dabei genau abläuft und wie man dies gezielt provozieren kann, basiert auf Philosophie und Soziologie. Ich kam zum ersten Mal mit Hegel und Adorno in Berührung, der Theorie des „don et contre-don“ von Marcel Mauss. Dieses Modell hat mich von Anfang an fasziniert und begleitet und beeinflusst mein Schaffen bis heute (Jean-Charles Bérardis Schriftversionen der Unterrichtseinheiten für das Fach „Ästhetik“ gehören zu den wenigen Unterlagen aus meinem Studium, die alle Umzüge überdauert haben und auch in Zukunft von mir wie ein Schatz gehütet werden).
Das Feature-Machen hat für mich sehr viel mit Kulturvermittlung zu tun: Erstens wendet es sich immer ein Publikum. Es bereitet eine Geschichte für Hörer*innen auf, als Autorin muss ich dieses Publikum mitbedenken. Das heißt, meine Entscheidungen, wie ich eine Geschichte aufbereite, welche Fragen ich stelle, welche ästhetischen Elemente ich wie einbaue, wo ich selbst als Autorin stehe und wie ich das übertrage, hat ganz viel mit dem, was ich aus dem Studium mitgenommen habe, zu tun. Und zweitens trägt es etwas an dieses Publikum heran, etwas Unbekanntes oder zumindest Verfremdetes, das diesem Publikum Fragen stellt, etwas mit ihm macht.
Und auch das Übersetzen hat per se einen tief ausgeprägten Vermittlungscharakter – zwischen Sprachen, klar, aber eben auch zwischen Kulturen, denn Sprache und Kultur sind nicht voneinander zu trennen. Seit ich wieder in Marseille lebe, praktiziere ich tatsächlich auch wieder „klassische“ Kulturvermittlung, da ich ab und an als Museumsführerin im MuCEM arbeite, allerdings in sehr geringem Umfang, da ich den Austausch und die Abwechslung zu meiner sonstigen, von solitärer Schreibtischarbeit dominierten Arbeit, als angenehm und interessant empfinde, nicht aber den repetitiven Charakter.
Eines meiner absoluten Lieblingszitate stammt von Samuel Beckett, mit dessen Werk ich mich während meines Studiums sowohl theoretisch als auch in der Theaterpraxis wiederholt beschäftigt habe (und der übrigens nicht nur fürs Theater, sondern auch fürs Radio geschrieben hat sowie übersetzte, u.a. seine eigenen Werke): “Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.” Dass man aus Scheitern lernen kann, ist natürlich ein Allgemeinplatz, allerdings einer, den man sich getrost zum Lebensmotto machen kann. Ich sehe das Zitat aber auch als Sinnbild für meinen Werdegang: Ursprünglich war mein Ziel nach dem Studium ein Volontariat in der ARD zu machen, also eine journalistische Grundausbildung. Da ich aber sehr neugierig veranlagt bin und in verschiedene Bereiche hineinschnuppern wollte (ich war und bin sehr theateraffin, hatte ein Praktikum im institutionellen Kulturbereich absolviert und brachte Berufserfahrung in der Literaturvermittlung mit sowie in der Kulturvermittlung im Rahmen von Kunstausstellungen), hatte mein Lebenslauf zwar Praktika im Bereich Journalismus vorzuweisen, aber lange nicht genug, um gut für eine solche Bewerbung gewappnet zu sein. Probiert habe ich es natürlich trotzdem, aber ohne Erfolg.
Letztlich bin ich froh darüber. Das Scheitern hat mir den Raum gelassen, mich frei zu entfalten, meine Interessen und Leidenschaften zu vertiefen und zu verfolgen. Nach sechs Monaten Radioausbildung an einer Radioschule in Frankreich (ein Projekt bei einem Bürgerradio in Nantes für Nachwuchsjournalist*innen aus ganz Europa) habe ich jahrelang eine Schüler*innenredaktion beim Offenen Kanal Berlin geleitet, nebenher als Regieassistentin im Hörspiel und Feature gearbeitet und so den Freiraum gehabt, meine ersten eigenen Stücke als Featureautorin zu machen und eigene Regieerfahrung zu sammeln. Ich habe mir meine „Ausbildung“ quasi selbst zusammengestückelt. So bin ich nach und nach immer weiter ins freie Arbeiten hineingerutscht. Häufig begegnet mir die Reaktion, es sei sehr „mutig“ ausschließlich frei zu arbeiten. Ich weiß nie so recht, was ich darauf antworten soll. Ich habe mich ja nie bewusst für das freie Arbeiten entschieden. Wenn ich als festangestellte Featureautorin und -regisseurin arbeiten könnte, würde ich das tun. Die Möglichkeit existiert in dieser Form aber gar nicht. Das Scheitern sehe ich dahingehend als wegweisend, dass ich inzwischen überzeugt bin, dass mir das primär journalistische Arbeiten gar nicht liegen würde, sondern dass es mich einschränken würde. Ich möchte nicht informieren, ich möchte Geschichten erzählen: mich interessiert das Persönliche, Intime, das lange Format, die akustisch-künstlerische Gestaltung – sprich all das, wofür im klassischen Journalismus kein Platz ist. Ich führe stundenlange Interviews für meine Radioarbeiten, teils in mehreren Aufnahmesessions, teils mit großem zeitlichem Abstand. Einmal habe ich eine Familie über 5 Jahre lang begleitet. Mir haben Interviewpartner*innen schon wiederholt gesagt, es sei ein bisschen wie sich auf die Analyse-Couch zu legen oder ich würde Fragen stellen, über die sie noch nie nachgedacht hätten. Es kann sehr emotional zu gehen. Das finde ich spannend. Allerdings hat das freie Arbeiten den Nachteil, dass es mit großer Instabilität und Prekarität einhergeht. Deshalb habe ich mehrere Standbeine: besser mehrere prekäre Arbeitsbereiche, als nur einer ;) Try again. Fail again. Fail better.
Das Übersetzen bietet mir auch von den zeitlichen Abläufen einen guten Ausgleich zum Radio: es ist pragmatischer (mit Ausnahme des Übersetzens von Literatur und Lyrik!) und auf kurze, klar definierte Zeiträume angelegt, aber auch sehr abwechslungsreich, ich lerne viel dazu! Hauptsächlich übersetze ich für ARTE, aber auch immer wieder für Kulturinstitutionen oder Museen. Primär aus dem Französischen ins Deutsche, aber immer wieder auch aus dem Englischen. Mehrmals habe ich – abgesehen von meinen eigenen Arbeiten – fürs Radio übersetzt und auch adaptiert. Darunter eine insgesamt zweistündige Hörspielserie für den WDR (die deutsche Adaption einer französischen Podcast-Serie von ARTE Radio), bei deren Produktion ich dann auch Regie geführt habe. Das hat großen Spaß gemacht, ich konnte all meine Schaffensfelder zusammenführen: Übersetzen, dazu- und umschreiben, um einem deutschsprachigen Publikum gerecht zu werden, und dann eben die Studioarbeit, also die Sprachaufnahmen mit Schauspieler*innen und die akustische Regie.
Eine meiner prägendsten beruflichen Erinnerungen:
Das große Aha-Erlebnis als ich das erste Mal die dramaturgische Wirkung von Musik auf Sprache im Radiostudio bewusst wahrgenommen habe. Magisch!
Ein Traum – etwas, das ich noch erreichen will: Einen französischen Roman (natürlich einen guten!) ins Deutsche übersetzen.
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Musicatreize a été créé en 1987 par Roland Hayrabedian. L’ensemble depuis ce jour défend le répertoire du XXe siècle, augmente et diversifie ce répertoire par de nouvelles oeuvres, confronte les époques et les esthétiques et a établi dans le sud de la France un outil privilégié de création musicale.
Depuis 7 saisons, la programmation de Roland Hayrabedian poursuit des objectifs de transmission à travers des résidences d’artistes, des Master classes, ainsi que des actions pédagogiques et participatives ouvertes à tous les publics.
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Wohnt in Marseille, arbeitet in Deutschland und Frankreich. Abschluss des Doppelmasters 2008 in Hildesheim. Wenn sie nicht gerade Soundschnipsel einer neuen Radioarbeit hin- und herschiebt oder stundenlange Interviews durchhört, an einer Übersetzung feilt oder Gruppen durchs MuCEM führt, rudert sie vom Alten Hafen zu den Frioul-Inseln oder schnorchelt zwischen Malmousque und der Île Degaby.